Aktuelles Urteil

Versicherungspflicht in abhängigen und unabhängigen Beschäftigungsverhältnissen – Urteil

Unterlag ein Arbeiter (im Prozess als Beigeladener) zuerst aufgrund seiner Tätigkeit für ein Unternehmen (im Prozess als Klägerin) im Zeitraum von März 2012 bis 30. April 2014 der Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung? Diese Frage beschäftigte zu Jahresbeginn des Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Urt. v. 26.01.2023, L 4 KR 550/16).

 

Vertrag zwischen Klägerin und Beigeladenem

Im konkreten Fall hatte ein 1976 geborener Ingenieur, der seit 2006 in Deutschland lebt und bis zu seiner Einbürgerung indischer Staatsbürger war, am 17. Februar 2012 einen Vertrag mit einer in Großbritannien und nach dem Recht von England und Wales gegründeten ansässigen Klägerin, der E Limited, abgeschlossen. In dem in englischer Sprache gehaltenen „Dienstleistungsvertrag“ wurde das Arbeitsverhältnis skizziert. Das Unternehmen E hat sich demnach darauf spezialisiert, seinen Kunden für spezielle projektbasierte Anforderungen die Dienstleistungen freiberuflicher Mitarbeiter zu vermitteln. Die Mitarbeiter, im Vertrag und im folgenden Fall als „Lieferant“ bezeichnet, erbringen dann zeitlich begrenzte Dienstleistungen für Projekte dieser Kunden. Die Geschäftstätigkeit des Lieferanten besteht dabei im Angebot spezieller, von bestimmten Kunden des Unternehmens benötigter Kompetenzen und Dienste. Der Lieferant sagt zu, „die Dienstleistung für den Kunden entsprechend den Bestimmungen dieses Vertrages zu erbringen; dieser stellt einen Dienstleistungsvertrag dar.“

 

Beigeladener wird bei Kundin der Klägerin angestellt

Des Weiteren wurden für die Pflichten des als „Lieferant“ bezeichneten Mitarbeiters aufgelistet, beispielsweise die Auslegung und Definitionen, Zahlung der Gebühren und der Status des Lieferanten. Zudem befanden   sich Regelungen zur Vertraulichkeit, Abtretung von Arbeitsergebnissen und geistigen Eigentumsrechten, Urheber- und Patentrechten durch den Beigeladenen an die Klägerin im Vertrag.

In der Zeit vom 1. März bis 28. September 2012 wurde der Beigeladene schließlich bei einem „Gebührensatz“ von 58 Euro pro Stunde als Software Consultant für die I C GmbH, die eine Kundin der Klägerin ist, angestellt. Auch für die Zeiträume vom 1. Oktober 2012 bis 30. September 2013, 1. Oktober 2013 bis 31. März 2014 und 1. bis 30. April 2014 schlossen die Vertragsparteien gleichlautende Aufstellungen. Der Gebührensatz betrug hier 59 Euro pro Stunde, wobei die Klägerin im Zeitraum von Oktober 2012 bis April 2014 nicht über eine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verfügte.

 

Beigeladener macht Arbeitsstunden geltend

Schon im Sommer 2011 hatte die Klägerin mit der in Bayern ansässigen IM GmbH einen Rahmendienstleistungsvertrag vereinbart. Ein mit IM verbundenes Unternehmen, IC, vereinbarte mit der Klägerin auf Basis des Rahmendienstleistungsvertrags unter dem 24. August 2012/ 6. Februar 2013 eine Leistungsbeschreibung. Der Beigeladene rechnete gegenüber der Klägerin jeden Monat ab und legte zwischen 109, 173 oder nur 66 Arbeitsstunden dafür zugrunde. Im Oktober 2012 machte der Beigeladene 6.431, im August 10.034 Euro, im Dezember 2013 7.083 Euro und im Januar 2013 10.207 Euro geltend. Für den gesamten streitigen Zeitraum entrichtete der Angestellte im Rahmen einer Antragspflichtversicherung nach § 28a Drittes Buch Sozialgesetzbuch Beiträge an die Bundesagentur für Arbeit. Zugrunde lag hier deren Annahme, der Beigeladene sei im gesamten Zeitraum einer selbstständigen Tätigkeit nachgegangen.

 

Beklagte sieht abhängiges Beschäftigungsverhältnis und Versicherungspflicht

Anfang März 2012 leitete die Beklagte ein Kontenklärungsverfahren ein. Der Beigeladene füllte dabei einen „Fragebogen zur Feststellung der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung für Selbständige“ aus und gab an, dass derzeit „nur 1 Auftraggeber (In, T)“ existiere. Die Arbeit verrichte er an dessen Dienstsitz und müsse regelmäßig acht Stunden am Tag arbeiten. Der Beigeladene stellte am 18. Mai 2012 einen Antrag auf Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status für seine Tätigkeit bei der Klägerin, woraufhin er am 20. Juli 2012 bei einer Dienststelle der Beklagten vorstellig wurde. Hier beantwortete er mithilfe einer Übersetzerin die an ihn gerichteten Fragen zu seiner alltäglichen Arbeit in der I GmbH. Die Klägerin beantwortete einen Fragenkatalog der Beklagten auch selbst, woraufhin die Beklagte feststellte, dass die Tätigkeit des Beigeladenen bei der Klägerin seit 1. März 2012 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde. Somit bestehe Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung.

 

Klägerin sieht keine Eingliederung in Arbeitsorganisation

Im Klageverfahren wiederholte die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und erklärte, dass der Beigeladene einen Teil der von ihm geschuldeten Leistungen von zu Hause aus erbracht habe. Jedoch liege bei der Gesprächsnotiz des Beigeladenen vom 20. Juli 2012 ein Missverständnis oder ein Übersetzungsfehler vor. Die Angaben bezögen sich wahrscheinlich auf die Auftragsvergabe durch die Klägerin, welche den Kunden benenne. Die Eingliederung eines IT-Dienstleisters von Software-Programmen sei jedoch in ihrer Betriebsstruktur ausgeschlossen, da sich das Geschäft auf die Vermittlung von Subunternehmen beschränke. Es sei nicht ersichtlich, in welche Arbeitsorganisation der Beigeladene eingegliedert worden sein solle. Zudem unterliege er auch keinen Weisungen im Hinblick auf die Auswahl der Einsatzunternehmen. Kontakt mit Kunden „der I GmbH“ sei nicht gegeben, diese bewillige ihm auch keine Sozialleistungen.

 

Beigeladener: Wollte als Freiberufler arbeiten

Der Beigeladene gab in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht unter anderem an, dass er in den zwei Jahren, um die es in dem Verfahren gehe, als Freiberufler arbeiten wollte. Die bis April 2014 für die Klägerin verrichtete Arbeit habe den früheren Zeiträumen entsprochen, auch hinsichtlich der Vertragslage. Es habe keine zeitliche Festlegung der Arbeitszeit und einige Einschränkungen hinsichtlich des Arbeitsplatzes und gegenüber den festangestellten Mitarbeitern gegeben. Zudem habe er keinen Zugang zum Intranet der Kundin gehabt und alle zum Programmieren genutzten Programme seien auf dem gestellten Laptop installiert gewesen. Die Arbeit habe er nicht weitergegeben, sondern sie nur im Netzwerk von IC und dem zur Verfügung gestellten Laptop erledigen können.

 

Sozialgericht weist Klage ab

Am 2. November 2016 wies das Sozialgericht die Klage ab und führte aus, dass für eine selbstständige Beschäftigung unter anderem die freie Zeiteinteilung spreche. Für eine abhängige Beschäftigung spreche hingegen die Einbindung des Beigeladenen in die betriebliche Organisation der Klägerin. Darüber hinaus seien unternehmerische Freiheiten des Beigeladenen jedoch nicht ersichtlich und es sei klar, dass er zur höchstpersönlichen Leistungserbringung verpflichtet gewesen sei. Die Klägerin legte gegen dieses ihr am 11. November 2016 zugestellte Urteil Berufung ein und verwies unter anderem darauf, dass sie dem Beigeladenen keine Arbeitsmittel zur Verfügung gestellt oder Weisungen erteilt habe. Das Sozialgericht verkenne, dass Beschäftigte, die einen Teil ihrer Arbeit von zu Hause aus erledigten, dies in der Praxis mit dem jeweils Vorgesetzten abstimmen. Darüber hinaus habe das Sozialgericht zu Unrecht angenommen, dass der Beigeladene zur persönlichen Leistungserbringung verpflichtet gewesen sei und der Tatsache, dass der Beigeladene kein eigenes Personal beschäftigte, ein zu hohes Gewicht beigemessen. Es sei nicht berücksichtigt worden, dass die Auftragslage des Beigeladenen eine derartige Investition wirtschaftlich nicht erlaube.

 

Klägerin: Beigeladener unterlag keiner Versicherungspflicht

Die Beklagte änderte ihren Bescheid dahingehend, dass nur in der vom Beigeladenen vom 1. März 2012 bis 30. April 2014 ausgeübten Tätigkeit bei der Klägerin Versicherungspflicht aufgrund abhängiger Beschäftigung in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestand. Die Klägerin forderte demgegenüber, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. November 2016 und den Bescheid der Beklagten vom 27. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Oktober 2013, beide in der Fassung des Bescheids vom 13. Juli 2021, aufzuheben und festzustellen, dass der Beigeladene zu 1 in seiner für sie ausgeübten Tätigkeit in der Zeit vom 1. März 2012 bis 30. April 2014 eben nicht der Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag. Die Beklagte beantragte, die Berufung zurückzuweisen und führte unter anderem an, dass eine abhängige Beschäftigung schon deshalb vorliege, weil der vereinbarte Vertragsgegenstand (Software Consultant), so unbestimmt sei, dass er durch zusätzliche Weisungen oder die Eingliederung in eine Betriebsorganisation bestimmt werde.

 

Urteil des Sozialgerichts wird geändert, Beigeladener unterlag keiner Versicherungspflicht

Nach Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26.01.2023 wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. November 2016 geändert (S 211 KR 2263/13). Aufgehoben werden der Bescheid der Beklagten vom 27. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 1. Oktober 2013, beide in der Fassung des Bescheids vom 13. Juli 2021, soweit darin die Versicherungspflicht des Beigeladenen zu 1 in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung wegen seiner Beschäftigung bei der Klägerin im Jahr 2013 festgestellt wird. Es folgt die Feststellung, dass der Beigeladene insoweit nicht der Versicherungspflicht unterlag. Die Berufung wird im Übrigen zurückgewiesen, die Kosten des Rechtstreits trafen die Klägerin zu ¾ und die Beklagte zu ¼. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Leitsätze zur Entscheidung

Folgende Leitsätze wurden zum Urteil formuliert:

  1. In selbstgewählter Arbeitsstätte wie der eigenen Wohnung und mit genutzter Software des Auftraggebers oder Kunden können IT-Spezialisten Heimarbeiter i.S.v. § 12 Abs. 1, Hs. 2 SGB IV sein.
  2. Aufgabe von Rechtsprechung ist es auch, die herkömmlichen Kriterien für die Statusabgrenzung gemäß der Entwicklung der Arbeitswelt teleologisch weiterzuentwickeln. Hier ist festzustellen, dass es nicht unbedingt für eine selbständige Tätigkeit spricht, wenn Freiheiten bei Ort und Zeit der Tätigkeiten gewährt werden.
  3. Fehlende feste Arbeits- oder Bürozeiten mit Aufgabenerledigung in den eigenen vier Wänden bei gleichzeitiger Einbindung in eine nicht selbst geschaffene betriebliche Organisation stehen einer Qualifizierung als Beschäftigung nicht entgegen.
  4. Im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens sind, wenn die zu prüfende Tätigkeit im Rahmen weiterer Vertragsbeziehungen zwischen dem Auftraggeber und Dritten erbracht wird, auch diese zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urt. v. 4. Juni 2019, B 12 R 12/18 R).
  5. Ein rein faktisches, nicht rechtlich gebundenes und daher jederzeit änderbares Verhalten ist nicht maßgeblich im Rahmen der Statusabgrenzung (vgl. BSG, Urt. v. 27. April 2021, B 12 KR 27/19 R). Unter eine doppelte Schriftformklausel gestellte Vereinbarungen verlieren nicht deshalb an Bedeutung, weil die Beteiligten etwas anderes „gelebt“ haben. Andernfalls wäre dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit sozialversicherungs- und beitragsrechtlicher Tatbestände nicht Genüge getan.
  6. Zur Statusbeurteilung eines IT-Spezialisten, der ausschließlich bei einer Kundin seiner Auftraggeberin eingesetzt wurde.